#Februar: Licht- und Schattenaspekte im beruflichen Kontext – ein Blick auf das jährliche Entwicklungsgespräch

In den meisten Unternehmen werden die jährlichen Entwicklungsgespräche mit Mitarbeiter*innen zu Beginn eines neuen Geschäftsjahres durchgeführt.
Ein Freund von mir, selbst Führungskraft, fragte mich nach meiner Meinung, wozu diese Gespräche eigentlich gut seien. Mir kam als erstes das Wort Wertschätzung in den Sinn: Zwei Menschen schenken sich gegenseitig Lebenszeit, um sich darüber auszutauschen, wie sie ihre Zusammenarbeit gestalten. Sie sammeln Ideen, was sich daran verbessern lässt und bedanken sich beieinander für die bisherige Zusammenarbeit. So der Idealfall in meiner Vorstellung über gelungene Unternehmens- und Teamkultur.
Das, was ich oft höre ist, dass vielen Menschen das Entwicklungsgespräch meistens gar nicht so angenehm ist. Sie möchten, dass es schnell vorbeigeht, sie fühlen sich, als ob sie sich rechtfertigen und der Führungskraft Honig ums Maul schmieren müssten. Dann wird vielleicht noch um die Gehaltserhöhung verhandelt und gut ist. Jetzt hat man wieder seine Ruhe bis zum nächsten Jahr. Schade, wie ich finde. Schade, dass sich Menschen damit die Möglichkeit verschenken, sich wirklich zu zeigen und wirklich mit Interesse einander zuzuhören, gerade bei dem Aspekt, neue Ideen und Verbesserungspotentiale zu besprechen.

Was mag dahinterstecken, dass wir diese Möglichkeit ungenutzt lassen? Ich glaube, es kann daran liegen, dass wir zum einen unsere eigenen Stärken und Arbeitsleistungen zu wenig im Blick haben. Dass wir uns gar nicht genug Zeit nehmen, um darüber zu reflektieren. Frag dich an dieser Stelle selbst einmal ganz ehrlich, wie oft du am Ende eines Arbeitstages zu dir sagst „Hey, das habe ich heute gut gemacht.“ Schreibst du dir deine Erfolge zum Beispiel auf oder notierst du nur deine Überstunden? Wofür kannst du dich anerkennen und mit wem sprichst du in der Arbeit darüber?
Umgekehrt denke ich, dass die meisten Menschen schneller sagen können, was ihnen bei ihrer Führungskraft fehlt oder diese besser machen könnte, als sich einmal wirklich dahingehend zu bemühen, deren Leistungen zu sehen und anzuerkennen.
Vielleicht mögen viele die Situation des Jahresgespräches auch nicht, weil sie letztendlich das ganze Jahr über nicht gut mit ihrer Führungskraft in Verbindung stehen. Es gibt insgesamt zu wenig Raum für persönlichen Austausch, für Momente der Wertschätzung und Anerkennung. Wenn dafür nur einmal im Jahr Zeit eingeplant ist und das in Form einer obligatorischen Arbeitsanforderung, fühlt sich das wenig authentisch an. Viele Start Ups machen es mittlerweile vor, wie es anders gehen kann. Sie probieren neue Möglichkeiten aus, Räume für Feedback und Wertschätzung zu schaffen. In agil organisierten Teams gehört der Austausch über gelingende Zusammenarbeit zu regelmäßigen Teamabläufen dazu. In Scrum ist dieser Austausch innerhalb der sogenannten Retrospektive sogar fester Bestandteil.


Was würde einen aufrichtigen Austausch über Stärken und Schwächen über Licht- und Schattenaspekte im beruflichen Kontext noch unterstützen? Meines Erachtens würde uns die Erkenntnis, dass uns vor allem die Schattenaspekte, wie schlechte Erfahrungen, überfordernde Situationen, Fehler etc. die größtmögliche Chance bieten, dazuzulernen und uns weiterzuentwickeln. Oft werden diese Aspekte als nicht geplantes Versehen in Abläufen bewertet und nicht als etwas, wofür wir dankbar sein können, weil es unserem Lernen gedient hat. Natürlich möchte niemand absichtlich etwas tun, was Kolleg*innen oder Kund*innen schaden würde. Zugleich können die meisten Menschen von Misserfolgen berichten und darüber, wie sie diese Erfahrungen später sinnvoll nutzen konnten. In so genannten Fuck up Nights werden diese Geschichten des Scheiterns und Lernens charmant verpackt und dienen der Unterhaltung eines Publikums.

Vor einigen Jahren habe ich eine Ausstellung von Alberto Giacometti (1901-1966), einer der bedeutendsten Bildhauer des 20. Jahrhunderts, besucht und war total beeindruckt davon, als er in einem Film darüber sprach, was ihn zur Bildhauerei gebracht hat, nämlich die Erfahrung des ständigen Scheiterns und damit der entstandene Wille, es besser und besser machen zu wollen. Schattenaspekte können also Antrieb und Motivation sein, etwas verändern zu wollen.

Vom Schatten ins Licht zu wachsen ist eine Metapher für mich, die für lebenslanges Lernen und Erfahrungen sammeln steht. Für beide Aspekte Anerkennung zu haben und sie bei sich selbst und anderen Kolleg*innen mit Wohlwollen zu betrachten, ermöglicht viel Spielraum für eine harmonische Zusammenarbeit und das Entdecken verschiedener menschlicher Qualitäten, die in ihrer Vielfalt immer die kraftgebende Ressource in Unternehmen bilden.