In den meisten Unternehmen werden die jährlichen
Entwicklungsgespräche mit Mitarbeiter*innen zu Beginn eines neuen
Geschäftsjahres durchgeführt.
Ein Freund von mir, selbst Führungskraft, fragte mich nach meiner Meinung, wozu
diese Gespräche eigentlich gut seien. Mir kam als erstes das Wort Wertschätzung
in den Sinn: Zwei Menschen schenken sich gegenseitig Lebenszeit, um sich
darüber auszutauschen, wie sie ihre Zusammenarbeit gestalten. Sie sammeln
Ideen, was sich daran verbessern lässt und bedanken sich beieinander für die
bisherige Zusammenarbeit. So der Idealfall in meiner Vorstellung über gelungene
Unternehmens- und Teamkultur.
Das, was ich oft höre ist, dass vielen Menschen das Entwicklungsgespräch
meistens gar nicht so angenehm ist. Sie möchten, dass es schnell vorbeigeht,
sie fühlen sich, als ob sie sich rechtfertigen und der Führungskraft Honig ums
Maul schmieren müssten. Dann wird vielleicht noch um die Gehaltserhöhung
verhandelt und gut ist. Jetzt hat man wieder seine Ruhe bis zum nächsten Jahr.
Schade, wie ich finde. Schade, dass sich Menschen damit die Möglichkeit
verschenken, sich wirklich zu zeigen und wirklich mit Interesse einander
zuzuhören, gerade bei dem Aspekt, neue Ideen und Verbesserungspotentiale zu
besprechen.
Was mag dahinterstecken, dass wir diese Möglichkeit
ungenutzt lassen? Ich glaube, es kann daran liegen, dass wir zum einen unsere
eigenen Stärken und Arbeitsleistungen zu wenig im Blick haben. Dass wir uns gar
nicht genug Zeit nehmen, um darüber zu reflektieren. Frag dich an dieser Stelle
selbst einmal ganz ehrlich, wie oft du am Ende eines Arbeitstages zu dir sagst „Hey,
das habe ich heute gut gemacht.“ Schreibst du dir deine Erfolge zum Beispiel
auf oder notierst du nur deine Überstunden? Wofür kannst du dich anerkennen und
mit wem sprichst du in der Arbeit darüber?
Umgekehrt denke ich, dass die meisten Menschen schneller sagen können, was
ihnen bei ihrer Führungskraft fehlt oder diese besser machen könnte, als sich
einmal wirklich dahingehend zu bemühen, deren Leistungen zu sehen und anzuerkennen.
Vielleicht mögen viele die Situation des Jahresgespräches auch nicht, weil sie
letztendlich das ganze Jahr über nicht gut mit ihrer Führungskraft in
Verbindung stehen. Es gibt insgesamt zu wenig Raum für persönlichen Austausch,
für Momente der Wertschätzung und Anerkennung. Wenn dafür nur einmal im Jahr
Zeit eingeplant ist und das in Form einer obligatorischen Arbeitsanforderung,
fühlt sich das wenig authentisch an. Viele Start Ups machen es mittlerweile
vor, wie es anders gehen kann. Sie probieren neue Möglichkeiten aus, Räume für Feedback
und Wertschätzung zu schaffen. In agil organisierten Teams gehört der Austausch
über gelingende Zusammenarbeit zu regelmäßigen Teamabläufen dazu. In Scrum ist
dieser Austausch innerhalb der sogenannten Retrospektive sogar fester Bestandteil.
Was würde einen aufrichtigen Austausch über Stärken und Schwächen über Licht-
und Schattenaspekte im beruflichen Kontext noch unterstützen? Meines Erachtens würde
uns die Erkenntnis, dass uns vor allem die Schattenaspekte, wie schlechte
Erfahrungen, überfordernde Situationen, Fehler etc. die größtmögliche Chance
bieten, dazuzulernen und uns weiterzuentwickeln. Oft werden diese Aspekte als
nicht geplantes Versehen in Abläufen bewertet und nicht als etwas, wofür wir
dankbar sein können, weil es unserem Lernen gedient hat. Natürlich möchte
niemand absichtlich etwas tun, was Kolleg*innen oder Kund*innen schaden würde.
Zugleich können die meisten Menschen von Misserfolgen berichten und darüber, wie
sie diese Erfahrungen später sinnvoll nutzen konnten. In so genannten Fuck up
Nights werden diese Geschichten des Scheiterns und Lernens charmant verpackt
und dienen der Unterhaltung eines Publikums.
Vor einigen Jahren habe ich eine Ausstellung von Alberto Giacometti (1901-1966), einer der bedeutendsten Bildhauer des 20. Jahrhunderts, besucht und war total beeindruckt davon, als er in einem Film darüber sprach, was ihn zur Bildhauerei gebracht hat, nämlich die Erfahrung des ständigen Scheiterns und damit der entstandene Wille, es besser und besser machen zu wollen. Schattenaspekte können also Antrieb und Motivation sein, etwas verändern zu wollen.
Vom Schatten ins Licht zu wachsen ist eine Metapher für
mich, die für lebenslanges Lernen und Erfahrungen sammeln steht. Für beide
Aspekte Anerkennung zu haben und sie bei sich selbst und anderen Kolleg*innen
mit Wohlwollen zu betrachten, ermöglicht viel Spielraum für eine harmonische
Zusammenarbeit und das Entdecken verschiedener menschlicher Qualitäten, die in
ihrer Vielfalt immer die kraftgebende Ressource in Unternehmen bilden.